Der stille Ruf des Todes: Essstörungen. Faktenbasierte Recherche hilft nicht gegen Hilflosigkeit

Ich habe mir für den vorliegenden Roman sowohl einschlägige Fachliteratur besorgt als auch das Internet durchforstet. Anfangs ging ich davon aus, dass die Recherche der medizinischen Daten die anspruchsvollste Aufgabe wäre, weil die schiere Menge auf den ersten Blick riesig erschien. Tatsächlich stellte es sich als emotional wesentlich belastender heraus, dass sowohl in der Literatur als auch in Internetartikeln der Schluss gezogen wird: Es gibt keine echte Heilung, denn irgendetwas bleibt immer zurück.

Dazu kommt die offene Unterwanderung durch die Bewegungen ProAna und ProMia. Ich habe irgendwann nicht mehr gezählt, über wie viele geschlossene Foren für Betroffene und ihre Angehörigen ich gestolpert bin. Die als gelöscht angezeigten Threads auf aktiven Websites füllten mitunter Dutzende Seiten. Fand ich trotzdem einen halbwegs aktuellen privaten Blog, führten immer wieder externe Links zu ProAna- oder ProMia-Seiten. Oder ich stieß auf einen Blogbeitrag mit unverhohlener Werbung für ATTE – Ana till the end.

Kurz: Der Eindruck, den ich vom Krankheitsbild Anorexie gewann, war schockierend. Wollen die Betroffenen überhaupt gesund werden? Anders konnte ich mir den Todestrieb, der in aller Öffentlichkeit zelebriert wird, nicht erklären.

Ich nahm zunächst Abstand von dem Projekt, weil ich mich emotional überfordert fühlte, und wandte mich „leichteren“ Themen zu. Erst nach einer Weile gelang es mir, mir meine eigene Haltung bewusst zu machen. Wenn jemand so offensichtlich aggressiv gegen sich vorgeht und damit auch die Hilfe anderer boykottiert, fühlt man sich als Außenstehender hilflos, besonders angesichts einer vermeintlich willentlich herbeigeführten und vor allem lebensbedrohlichen Situation.

Ich nahm mich als Betrachter erst einmal zurück und versuchte zu begreifen, dass von außen wahrgenommene „Anomalien“ ein Ausdruck der Störung sind, genau wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch. So sollte man z.B. die aggressive Ablehnung durchaus als Hilferuf deuten, und zwar in beiden Ausprägungen der Essstörung: Es sind sehr starke Autoaggressionen nötig, um zu viel als auch zu wenig Nahrung zu sich zu nehmen, um den Impuls der Sättigung bzw. des Hungers umzudeuten, sodass die idR bekannten gesundheitlichen Folgen ausgeblendet werden können.

Genauso scheint die Umdeutung des Schmerzes bei anderen Ausprägungen autoaggressiven Verhaltens zu funktionieren. Statt die Emotionen nach außen zu tragen, richtet der Betroffene sie aufgrund gefürchteter Sanktionen, geringem Selbstwertgefühl o.ä. gegen sich. Könnte es demnach am entscheidenden Impuls liegen, der den Betroffenen dazu veranlasst, sich in Kombination mit seinen bisherigen Erfahrungen unbewusst für die Essstörung zu entscheiden? Ist die Essstörung am Ende nur die Maske einer Ansammlung anderer Probleme, die den Betroffenen belasten? Hätte er oder sie vielleicht genauso gut anfangen können, sich zu ritzen, Drogen zu nehmen o.ä.?

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