Der stille Ruf des Todes: Essstörungen. Emotionale Ambivalenz

In der Fachliteratur wird die Anorexia nervosa als seltenste und zugleich schwerste Form der psychischen Erkrankungen bezeichnet. Die Behandlungsdauer von mehreren Jahren – auch ohne Erfolgsaussichten – macht Außenstehenden Angst. Man will sich abwenden, weil man den Prozess selbst nicht erträgt, kann es aber nicht, weil man befürchtet, den Betroffenen mit dem Verhungern allein zu lassen.

Ebenfalls erschreckend ist, dass jeder mindestens eine Person mit einem gestörten Verhältnis zur Nahrungsaufnahme zu kennen scheint. Die persönlichen Berichte decken sich in etwa. Man stolpert beim Verhalten über die unglücklichen Paarungen Kontrollzwang und Maßlosigkeit, Selbstzerstörung und Angst vor Krankheiten, Depressionen und Manien, die eine freundschaftliche oder familiäre Beziehung schwierig bis unmöglich machen.

All das führt anscheinend dazu, dass man Anorexie trotz eindeutiger Faktenlage weder emotional noch rational verarbeiten kann. Wie sonst bedingen sich so widersprüchliche Verhaltensformen?

Aufgrund dieser Komplexität resultieren darauf für Betroffene und Angehörige immer wieder die gleichen Fragen, ohne dass darauf Antworten gefunden werden können:

Was? Essen soll schwierig sein? Das ist doch die Grundlage des Lebens! Aber wenn ich die Betroffene am Tisch sitzen sehe, verstehe ich plötzlich, warum sie nicht essen kann.

Jemand stößt dich mit aller Macht weg, obwohl er deine Hilfe braucht? Krass. Es ist für dich eigentlich nur eine Frage der Zeit, wie lang du dieses Spielchen mitmachst. Aber kaum hast du dich entschieden, den Betroffenen gehen zu lassen, treibt dich dein schlechtes Gewissen zu ihm zurück.

Wieso müssen gerade Jugendliche, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben, daran erkranken? Was treibt Erwachsene dazu, ihrem Körper die Lebensgrundlage zu entziehen? Und warum wird „Schlanksein“ positiv gefördert, obwohl die Folgen für Betroffene unübersehbar sind?

 

Auch Verzicht und Gier werden einander gegenübergestellt, obwohl die emotionalen Grenzen fließend sind: Der Verzicht auf Essen wird bei Adipositas positiv empfunden, wenn er nicht sogar als Gesundheitsmaßnahme gefördert und aktiv unterstützt werden muss. Ist dagegen schon jemand „dünn“ oder untergewichtig, wird der scheinbare Verzicht oft als Trotz oder Sturheit bezeichnet, die Not dahinter jedoch oft nicht erkannt. Entsprechend ablehnend kann die Reaktion des Helfers ausfallen, obwohl der Untergewichtige Unterstützung bräuchte, um wieder essen zu können, genauso wie der Übergewichtige jemanden braucht, der ihm hilft, mit dem Essen aufzuhören. Aber wer setzt sich schon freiwillig zu jemandem an den Tisch, der verbiestert auf seinen Teller starrt?

In der Literatur findet man den „gemütlichen Dicken“, der (positiv) zum Verweilen einlädt. Auf der anderen Seite steht der Archetyp der „geizigen Dürren“, die einem wahrscheinlich noch das Wenige, das man selbst hat, wegnimmt. Aber sind Adipositas-Betroffene wirklich gemütlicher als Anorexie-Betroffene? Zeugt „großer Appetit“ wie bei Gustav Gans nicht auch von der Unfähigkeit, sich zurückzuhalten oder etwas mit anderen zu teilen? Oder lässt man sich wieder von den Äußerlichkeiten täuschen?

Weiterhin muss man sich fragen, ob Außenstehende mit all ihren Ängsten und Enttäuschungen, die sie bereits mit Betroffenen erlebt oder von denen sie gehört haben, einigermaßen vorurteilsfrei hinter die körperlichen Fassaden blicken können.

Und sind Essstörungen aufgrund der Faktenlage demnach wirklich ein Thema für die Belletristik? Sollten sie nicht doch lieber in der Schublade bleiben?

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