Yps – Tour de Beers

Sommerkonserve von Bettina Unghulescu

Ungefähr in der Zeit, als ich mit Ronnie die deutsche Staatsgeschichte aufgerollt hatte, begann das Abenteuer erst richtig. Entdecken konnte man nicht nur Staaten, Kinder aus fremden Ländern und Matschlöcher – sondern auch die viele lustig-bunten Zeitschriften am Kiosk. Meine Neugier stillte ich zunächst mit einschlägigen Mädchen-Pferdeheften, bis es mir zu dumm wurde, Cindys, Reginas oder Sabines Aventüren im Comicformat zu verfolgen. Gabs denn nichts zum Anfassen? Wieder einmal war es Luca, die mich mit einer neuen Idee infizierte.
Es war ein ziemlich grauer Regentag, als wir etwas gelangweilt in ihrem Zimmer saßen und uns partout kein neues Barbie-Rollenspiel einfallen wollte. Alle Kleider waren schon an- und wieder ausgezogen worden, das „Traumpferd“ gestriegelt, gekämmt und die Bürste voller Haare. Irgendwann krabbelte Luca aus dem riesigen rosa Kleiderhaufen und ging ihren großen Bruder in seinem Zimmer nerven, der sie gleich darauf mit den Worten: „Schieb ab und lass mich in Ruhe!“, wieder rauswarf. Doch Luca strahlte trotzdem, denn sie hatte ihm seine Comicsammlung für einen Nachmittag abspenstig machen können, und das verheißungsvolle Leuchten in ihren Augen signalisierte mir das Ende der Langeweile.
Sofort vergruben wir uns in den unzähligen Asterix- Clever-&-Smart- und Yps-Heften. DAS waren mal richtig spannende Geschichten, nicht immer dieses Pferde-Mädchen-Zeugs! Und schließlich entdeckten wir das allererste Yps-Heft mit dem Katapult. Nach einem kleineren Wortgefecht konnte Luca auch dieses ihrem Bruder abluchsen, der es aus nicht bekannten Gründen aufgehoben hatte, und los ging der Mordsspaß. Ich weiß nicht, ob sie oder ich aus Versehen draufstieg beim Versuch, das Barbie-Stiefel-Geschoss hinter der Heizung herauszuziehen. Jedenfalls war der Hefthaufen nebst Gimmick nach einer Stunde wieder zu seinem Besitzer gewandert, und wir knackten Lucas Sparschwein.
Denn das Yps-Heft hatte ich bei meinen Pferdeheft-Ausflügen auch immer im Schaufenster des Kiosk gesehen. Wenn Simon, Lucas Bruder, uns also den Blick in die bunte Welt der Gimmicks verwehrte, mussten wir zur Tat schreiten und uns selbst welche besorgen.

Ich erinnere mich, dass das erste Heft drei D-Mark gekostet hat. Drei Wochen Taschengeld für das Sondergimmick schlechthin, das 500. Yps-Heft mit der Edelsteinschleiftrommel. Und das waren Spaß und Muskelkraft für 30 Tage, wenn man die Anweisungen zum Gebrauch des Gimmicks befolgte. Denn man musste den Edelsteinschleifsand mit den ungeschliffenen Edelsteinen in eine flache, grüne Trommel füllen, den schreiend orangen Deckel aufsetzen und das Ganze an den Speichen seines Fahrrades befestigen. Und dann hieß es: kräftig treten.
In den nächsten vier Wochen machten Luca und ich so viele Kilometer wie nie wieder danach. Wir fuhren Flüren ab von der Beethovenstraße bis hinüber zur Bislicher Straße. Wir kreuzten durch die Villensiedlung an der Waldstraße und entdeckten, dass unsere Eltern sich sehr aufregten, wenn wir ohne bescheid zu sagen den Auesee mit dem Fahrrad aufsuchte. Wir holten Klassenkameraden und Freunde ab und walzten in Fünferreihen über die schlecht asphaltierten Feldstraßen bis zum Diersforter Wald und zurück, jeder eine der unschätzbar wertvollen Edelsteinschleiftrommeln zwischen den Speichen. Auch Klausi und Dieter, Erzfeinde und Nachbarn von klein auf, hatten sich unserem De-Beers-Konvoi angeschlossen. Da Dieters Eltern aber strickt gegen das „Verkitschen von Taschengeld“ waren, erkannten sie weder den physischen, noch den gesellschaftlichen Wert dieses Gimmicks und verboten ihm den Erwerb. So fuhr er nun missgünstig und immer wieder nach den Speichen der anderen schielend mit.
Über unsere Touren führten wir eifrig buch und phantasierten umso heftiger, je länger wir schon unterwegs waren. Die verstrichenen Tage notierten Luca und ich in unserem „EDENSTEINHEFT – GEHEIM!“ Am letzten Tag wollten wir die Trommeln gemeinsam feierlich öffnen und uns am Funkeln erfreuen. Deshalb weiß ich auch heute noch, dass es der 29. Tag unserer Tour de Klunker war, als das Schreckliche passierte.

Es war ausnahmsweise mal sonnig, als wir vor Klausis Haus anhielten, um ihn zur vorletzten Tour abzuholen. Doch er kam nur an die Tür und verkündete traurig, dass er nicht mitfahren würde, denn – und ob dieser Gemeinheit hielten wir die Luft an – irgendein Dreckskerl hatte sein Fahrrad geklaut. Mitten in der Nacht. Heimlich, still und leise. Obwohl er es wie immer ganz sicher unter den Rhododendron geschmissen hatte. Wir waren fassungslos!
Rasch beratschlagten wir, wie man den gemeinen Dieb fangen könnte und was wir mit ihm anstellen sollten. Gruppenkeile wurden einstimmig beschlossen, und deshalb verließen wir Klausi rasch wieder, auf den Lippen Verwünschungen gegen den Übeltäter und alle Dämonen der Hölle beschwörend, um diese Ungerechtigkeit zu rächen.
Um es kurz zu machen: Wir fanden ihn natürlich nicht, konnten aber fünf zusätzliche Kilometer in unser EDENSTEINHEFT – GEHEIM! eintragen. Klausi war untröstlich, als wir ihm das Scheitern unserer Mission mitteilten, aber ich glaube, es lag vornehmlich am Verlust des teuren Sportrades mit Dreigangschaltung. Umso überraschter waren wir, als das Fahrrad an Tag 30 wieder im Rhododendron lag. Der gemeine Dieb hatte es zurückgebracht, aber perfiderweise die Edelsteinschleiftrommel vorher geleert. Klausi war das wurscht, er hatte sein Rad wieder, und seine Eltern bestanden nun abendlich auf das sichere Wegsperren in der Garage.

Jahre später – wir hatten schon längst alle das Abitur in der Tasche und trafen uns zufällig im „Apfelbaum“ auf dem Kornmarkt – löste sich der Fall so überraschend wie schenkelklopfend auf. Klausi und Dieter hatten ihre Feindschaft nie ganz begraben, aber eine Art Waffenstillstand geschlossen, denn das Schicksal führte sie immer wieder zusammen. (Soweit ich informiert bin, arbeiten sie auch heute noch in der gleichen Firma – in benachbarten Büros. Und sie haben in die gleiche Familie eingeheiratet.) So saßen sie einigermaßen versöhnt miteinander am Tisch und frotzelten mit dem Rest über die Vergangenheit. Wie sich herausstellte, erregte die Edelsteinschleiftrommel immer noch die Gemüter. Und weil es gerade so schön war und das Bier so obergärig, grinste Dieter breit und packte aus.
Er hatte 28 Tage unsere Tour de Force mitgemacht, weil er sich eingeredet hatte, dass es ihm nichts ausmachte, wenn alle ihre eigenen Edelsteine schliffen und er nicht. Auch dass Klausi dazugehörte, ausgerechnet Klausi! – an dieser Stelle lächelte er ihn leutselig an – kratzte ihn nicht. Bis zum Morgen des 29. Tages. In der Schule hatten wir zusammengestanden und uns schon wieder von unseren Reichtümern vorgeschwärmt, die wir bald ernten würden, und wir hatten so füchterlich dabei übertrieben, dass bei ihm der Neid durchgebrochen war. Er wollte auch angeben, seine Edelsteine herumzeigen und seine Ausbeute mit den anderen messen. Und weil Klausi gerade die dickste Lippe riskierte – und wohl auch, weil er gleich nebenan wohnte und Dieter zufällig wusste, wo er sein Fahrrad abends parkte – hatte er eine günstige Gelegenheit abgepasst und zugegriffen.
Man konnte förmlich sehen, wie die Emotionen in Klausi aufwallten, sein Gesicht war wie eine Schaufensterscheibe. Alle schwiegen ob dieser ungeheuren Offenbarung. Also hatte Dieter am 29. Tag überzeugend Theater gespielt? Die ersten Kicherer wurden laut.
Dieter ließ es sich nicht nehmen, in allen Einzelheiten sein Vorgehen zu schildern. Wie er das Fahrrad zu seinem Geheimversteck gebracht und am nächsten Tag etwas Werkzeug organisiert hatte, um die Trommel abzulösen und zu öffnen. Leider hatte er nicht mit Klausis Gründlichkeit gerechnet, der wohl etwas geahnt haben musste. Er hatte den Deckel mit Zweikomponentenkleber aufgesetzt, sodass ihn wirklich niemand abnehmen konnte. Mit dem Schraubenzieher hatte Dieter auch kein Loch in die Trommel bohren können, und als er sich ein paar Schrammen beigebracht hatte, beschloss er, es anders zu versuchen.
Auf der Rückseite des Grundstücks seiner Eltern stand eine riesige Garage, die mit Werkbank und noch mehr Werkzeug ausgestattet war, denn sein Vater war schon immer ein leidenschaftlicher Bastler. Da seine Eltern an diesem Nachmittag nicht da waren, verlegte er den Tatort in die gut ausgestattete Garage und schaffte es tatsächlich, die Trommel mit einem Fuchsschwanz aufzusägen.
„Für so raffiniert hätte ich dich gar nicht gehalten“, gluckste Judith und musterte Klausi, dessen Gesichtszüge sich allmählich beruhigten. Er schluckte laut und dick und fragte mit belegter Stimme: „Und – und was hast du mit den Edelsteinen gemacht?“
Dieter räusperte sich umständlich. „Na ja – ich war ein neunjähriger Junge mit viel Fantasie und wenig Erfahrung in solchen Dingen.“ Tiefer Schluck aus dem Bierglas, obergärig. „Weil ich keine Spuren hinterlassen wollte, hielt ich es für das beste, das Fahrrad über den Gully zu stellen. Du weißt schon, da war der Gully, für den mein Vater extra einen Antrag bei der Stadt gestellt hatte und -“
„Schon klar“, unterbrach Klausi ihn. Auf seinen Wangen zeigten sich die ersten roten Flecken.
Dieter nahm noch einen Schluck. Wir hingen an seinen Lippen.
„Als ich endlich das letzte Stückchen abgesägt hatte, sind die Edelsteine runtergefallen und im Gully verschwunden. Da war nix mehr zu machen.“
Wir stellten uns vor, wie Dieter rasend vor Ärger in der Garage herumhüpfte, wie ihm zu spät eingefallen war, dass er erst die Klemme hätte durchsägen müssen und dann die Trommel auf die Werkbank hätte legen können, um dem Verlust der Edelsteine vorzubeugen. Ich glaube, die Scheiben klirrten unter unserem Gelächter an diesem Abend besonders laut.

Was aus meinen Edelsteinen geworden ist? – Ich glaube, ich habe meine Trommel etwas weniger aufwändig geöffnet, mich einen Nachmittag an den etwas stumpfen Steinchen erfreut und sie dann in eine Dose getan, die irgendwann verschwunden ist.

Zuerst gepostet am 27. April 2010