Sommerkonserve von Bettina Unghulescu
Egal wie groß der Ärger war, den wir uns mit unseren Yps-Käufen einbrockten, wir sammelten mit glühendem Eifer weiter. Je ekliger die Gimmicks, desto größer die Unterhaltung. Oft kauften wir die Hefte nur, um den Erwachsenen zu zeigen, dass es noch wilder, noch finsterer, noch alberner ging, nur damit sie die Köpfe schüttelten und uns in Ruhe ließen. Irgendwann würden uns die Flausen schon vergehen, murmelten sie. Und wir ließen uns gleich noch mehr Zeit damit.
Es kam der Spätherbst. Oder war es Frühling? – Es war die Zeit der Spinnen. Der Monat der ekeligen, langbeinigen, Netze webenden, angsteinflößenden und mitunter interessant gezeichneten Krabbeltiere. Was man jedoch aus einem Reflex heraus niemals angefasst hätte, wäre man ihm begegnet, bekam als künstliches Geschöpf eine ganz besondere Note. Nicht die Überdimensionalität oder die wabbeligen Extremitäten waren es, die uns zum Kauf der „gruseligen Klebespinne“ mit Ypsheft veranlassten. Es war die Vorstellung der entsetzten Gesichter, die wir damit zu erzielen hofften.
Stolz wanderten Luca und ich mit unserer Errungenschaft zu ihr nach Hause, rissen die Folien ab und inspizierten die Wabbeldinger, die tatsächlich irgendwie wie Spinnen aussahen. An die Wand sollte man die Teile werfen, und das taten wir auch mit großem Eifer. Täuschend realistisch hangelten sich die Biester aufgrund des Klebefilms an der Tapete hinunter, und ich glaube, unser begeistertes Quietschen war der Anlass, dass uns Lucas Mutter rauswarf. Ich glaube, wir hatten die 70 db (A) um ungefähr 150 Prozent überschritten. Wohin jetzt? Draußen gab es nichts, an das wir die Spinnen hätten werfen können. Die Hauswände waren zu rau, und die Gefahr, dass der Klebefilm dort mit Sand verhunzt wurde, war uns zu groß. Wir wollten keine Wüstentiere, sondern Schleimmonster.
„Gehen wir Jeanette besuchen“, schlug Luca vor, und wir freuten uns auf dem Weg dorthin schon wie die Schneekönige. Jeanette war ein etwas zimperliches Ding, das immer mit Schleife im Haar oder zumindest feinem Röckchen durch die Gegend stöckelte, und auch wenn wir sie hin und wieder um ihre schönen Sachen beneideten, fanden wir sie blöd. Sie wusste das, als sie uns hereinließ, aber wahrscheinlich war ihr an diesem Nachmittag langweilg. Im Wohnzimmer präsentierten wir ihr unsere Spinnen, und wie erwartet kreischte sie erst einmal ein bisschen. Dann wurde sie neugierig.
„Und die klettern wirklich die Wände runter?“, fragte sie mit großen Augen.
„Klar“, meinte ich und holte gleichzeitig mit Luca aus. Es klatschte, dann klirrte es – und Jeanette wurde leichenblass.
Luca und ich sahen uns an. Was hatten unsere Mütter gesagt? Niemals im Wohnzimmer mit Bällen und anderen Wurfgeschossen spielen! Bei anderen immer erst fragen und nicht sofort loslegen! Und vor allem: vorsichtig sein!
In unserer Verbundenheit gegen Jeanette hatten Luca und ich den gleichen Gedanken gehabt. An der Wand über dem Sofa hing nicht der in den 80ern noch übliche röhrende Hirsch im Wald, sondern ein Aquarell, wie wir von der zitternden Jeanette erfuhren. Dieses Aquarell, eine Wasserfarbenzeichnung, die wir nicht für besonders wertvoll hielten, stammte von einem niederrheinischen Künstler, das Jeanettes Eltern von ihrer Tante Rosa – sie hieß wirklich so – zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. „Als Wertanlage, die man versilbern kann“, so sagte Jeanettes Vater wohl immer. Und jetzt lag der Bilderrahmen dieses Wasserfarbengemäldes in Scherben auf dem Boden. Die Spinnen hatten es so präzise hingerichtet, dass sich beim Fallen eine Scherbe ins Papier gebohrt hatte. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
„Morgen kommt Tante Rosa zu Besuch“, schluchzte Jeanette verzweifelt und vergrub sich in ihren blonden Locken. „Sie ist die Erbtante meines Vaters, und das Bild hat mindestens tausend Mark gekostet!“
Jetzt erblassten auch Luca und ich. Tausend Wochen Taschengeld, ging es mir durch den Kopf. Einfach so weg. Für ein Pelikanbild.
„Und was machen wir jetzt?“, stammelte Luca.
In diesem Moment näherte sich draußen ein Bienenschwarm, der rasend schnell auf dem Asphalt dahinpfiff. In unser entsetztes Schweigen hinein hörten wir ihn immer lauter werden, die Frequenz schwoll an zu einem unerträglichen Sausen, quietschende Bremsen mischten sich in das Kreischen und Poltern einer Karosserie. Das infernalische Donnern ließ die Wände wackeln. Putz rieselte auf unsere Köpfe, Scherben klirrten, Holz splitterte.
Dann war es wieder still.
Der Schweiß – oder vielleicht waren es Tränen – bahnte sich seinen Weg über unsere weißen Gesichter und hinterließ feine Spuren im Putz. Das Sofa stand plötzlich einen Meter weiter im Raum, während darüber nicht mehr das weiße Quadrat des gefallenen Bildes zu sehen war, sondern ein Loch. Und durch dieses Loch blickten wir in das erstarrte Gesicht des Autofahrers, der soeben seinen Japaner in Jeanettes Vorgarten geparkt hatte.
„Alles – alles in Ordnung?“, stammelte er. „Sind deine Eltern zu Hause?“
Zehn Minuten später war die Presse da und der Krankenwagen. Und Jeanettes Eltern, die eigentlich nur kurz zum Einkaufen weggefahren waren. Es herrschte riesiges Durcheinander, in dem wir von einem Notarzt und Jeannettes Mutter mit Süßigkeiten und vielen guten Worten versorgt wurden. Irgendwann tauchten unsere Eltern auf und nahmen uns bestürzt mit nach Hause. Unsere Spinnen hatten wir indes völlig vergessen – wir suchten aber auch nicht mehr danach. Was die Versicherung und die Polizei mit dem unglücklichen Autofahrer gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich auch nicht mehr danach gefragt.
Ob diese Geschichte wirklich stimmt? – Hm. Nun. Auslegungssache. Die gruseligen Klebespinnen gab es wirklich. Jeanette hieß eigentlich anders, und der Wagen des Autofahrers war eine ganz andere Marke. Der Unfall indes hatte sich wirklich ereignet – aber ob wir oder jemand anders vor Ort war – und ob Tante Rosa wirklich am nächsten Tag zu Besuch hätte kommen sollen – das zu entscheiden überlasse ich dem Leser.
Auf jeden Fall ist es eine ziemlich spannende Erinnerung, oder?