Yps – wie alles begann

Sommerkonserve von Bettina Unghulescu

Eigentlich kann ich hier nichts neues erzählen. Jeder hat seine Kindheitserinnerungen, die wahrscheinlich schon etliche Millionen Menschen ähnlich oder haargenauso erlebt haben. Manche schreiben alles auf, andere erzählen es nur – ich werde versuchen, die Erinnerung zu (er-)finden. Ein bisschen von dem, was sich hinter den Yps-Geschichten verbirgt, ist die Wahrheit, und ein bisschen habe ich dazugeschrieben, weil es so besser klingt. Insgesamt betrachtet handelt es sich aber auch hier um Erinnerungen. Wenn ich mich z. B. daran erinnere, wie ich diese Geschichten aufgeschrieben und in diesen Momentan tatsächlich vor mir gesehen habe – dann sind sie fast schon und in ganzer Schönheit wahr.

Wie kommt man dazu, etwas zu sammeln? Geht es dabei um die Gegenstände, die ideellen Werte, die Darstellung? In erster Linie beschäftige ich mich ja mit den Erinnerungen und den damit zusammenhängenden Emotionen (und Verwicklungen). Ich bin sicher, dass etliche tausend andere Kinder ebenfalls vom Yps-Fieber befallen waren, sonst hätte diese Serie nicht jahrelang reißenden Absatz gefunden. Etliche Gymmicks dürften bekannt sein, und ich wiederum kenne nur einen Bruchteil dessen, was man als „billige Beigabe“ mit dem Heft erwarb. Bis ich aber einen oder mehrere Arbeitsplätze mit meinem Taschengeld finanzierte, war ich ein ganz normales Gör in den schlimmsten Jahren, probierte alles aus, stellte viel an und war hin und wieder auch mal richtig lieb, aber das war eher die Ausnahme. Der Umstand, dass ich einen der ältesten Streiche der Welt verpfuschte, führte schließlich zu einer ganzen Reihe von Yps-Unfällen in der Zukunft, und deshalb ist dieses Ereignis auch wichtig für diese Reihe.

Es war im Sommer. Ich habe keine Ahnung, wie alt ich damals war, aber meine Knie waren aufgeschlagen und wir überboten uns mit Mutproben der weniger gefährlichen Art. Eine davon war „Klingelmännchen“. Jemand schleicht zu einer Tür – bevorzugt waren bei uns die Bungalowsiedlungen – drückt auf die Klingel und rennt weg, so schnell es geht. Der Sinn dieser Handlung habe ich weder damals noch heute verstanden, aber es war wahnsinnig aufregend, ob man erwischt wurde und wie oft man sein Opfer hinters Licht führen konnte, bis ein Schuh / ein Schimpfwort / eine Axt flog. Heute war ich dran.
Nun, ich will es kurz machen, jeder kennt das. Man tuschelt, welcher Hausbesitzer am „gefährlichsten“ ist, wer sofort die Eltern anruft, wenn man erwischt wird. Dann wird der „Klingelmann“ oder die „Klingelfrau“ losgeschickt, während die Meute sich irgendwo versteckt und zuschaut, meist hinter am Straßenrand parkenden Autos auf der anderen Straßenseite.
Da stand ich nun vor Terböttchens Haustür, einsam, verlassen, zur Mutprobe verdammt, die ich nicht durchführen wollte. Terböttchens kannte ich gut – sie waren immer nett zu uns, und ich fand es gemein, ihnen jetzt diesen Streich zu spielen. Denn Frau Terböttchen war schon mindestens hundert Jahre alt – jedenfalls war ihr Haar sehr grau – und kam nur noch mühsam zur Tür. Aber ich hatte es mit den anderen so besprochen, und wenn ich dazugehören wollte – Sie wissen schon.
Langsam hob ich den Finger zur Klingel, drückte kurz und kräftig drauf. Hinter mir hörte ich das entfernte Tuscheln und Zischen der anderen.
Nichts passierte. Ich drückte noch mal.
Schlurfen war von drinnen zu hören, jetzt hätte ich eigentlich wegrennen müssen. Schon wurden die scharfen Warnungen der anderen laut, dann hörte ich Fußgetrappel. Die anderen rannten davon, und mir, mir schlug das Herz bis zum Hals!
Frau Terböttchen öffnete.
„Hallo Bettina“, sagte sie etwas verschlafen. Ich hatte sie beim Mittagsschlaf gestört. „Was gibt´s denn?“
„H-hallo Frau Terböttchen“, murmelte ich verlegen. Jetzt war es definitiv zu spät zum Weglaufen.
„Ist was passiert?“, fragte die alte Dame alarmiert. Ich schüttelte stumm den Kopf.
Frau Terböttchen war ja nicht so alt geworden, weil sie die Augen in ihrem Leben immer feste zugemacht hatte. Sie sah mir an, dass etwas hätte laufen sollen, aber ich war einfach zu perplex und zu rot im Gesicht, als dass ich es jetzt noch hätte durchführen können. Frau Terböttchen zog die Augenbrauen hoch und blickte auf die Straße. Dort war niemand mehr zu sehen.

„Warte mal“, meinte sie schließlich, schlurfte davon und kam mit einer Tüte Bonbons wieder. „Nimm das. Das sind die guten Milch-Karamell-Bonbons. Und gib den anderen auch welche ab. Wie läuft´s in der Schule?“
Allmählich löste sich die Starre, die mich befallen hatte. Sie hatte es gemerkt. Vielleicht hatte sie es auch schon gewusst, als ich zum ersten Mal geklingelt hatte. Und sie hatte nichts gesagt, obwohl sie sich wegen ihrer kaputten Knie nur schwer vorwärts bewegen konnte. Und jetzt schenkte sie mir auch noch eine ganze Tüte Bonbons für mich und „die Anderen“, weil sie – weil sie –
Ich weiß bis heute nicht, was sie damit ausdrücken wollte. Jedenfalls suchte ich nach diesem Erlebnis die anderen, teilte lustlos mit ihnen die Bonbons und ging dann nach Hause.

Von Mutpröbchen und Kräftemessen hatte ich genug, das war was für Blödies. Was hatte man davon, wenn man andere ärgerte? Ich war weiß Gott kein Engel und auch keinem Spaß abgeneigt, aber bei Frau Terböttchen tat es mir richtig leid. In meiner Verzweiflung fing ich an, Comics von der Sorte Pferde-und-Mädchen zu lesen. Das war aber auf Dauer nicht das Wahre, es war zu viel Romantik und zu wenig Spaß dabei.  Wenn es auch mal gekracht hätte, okay, damit hätte ich leben können, aber die Mädels in den Heften verhielten sich wie Püppchen, die alle anderen verstanden und immer die besten Noten nach Hause brachten. Vor allem stellten sie nie etwas an! Die Gegenspielerinnen, die Bösen, wurden hingegen so dumm hingestellt, dass mir die Lust verging. Es musste etwas her, das mehr fetzte. Aber bis ich es entdeckte, brauchte ich noch ein paar verregnete Stunden und einen missglückten Barbie-Nachmittag mit Luca.

Zuerst gepostet am 24. April 2010