Rezension Der Würger von Hietzing, Constanze Scheib, Oktopus Verlag
Liebe Franka,
es hat den Anschein, als werde mich meine nächste Reise zu einer überaus ungewöhnlichen Destination führen. Man sagt, der Ort läge nur ein Stück hinter Alpha Centauri – aber wo bitte ist Alpha Centauri? Ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Ort je auf einer unserer Karten verzeichnet gefunden zu haben, und je länger ich darüber nachsinne, desto unsinniger kommt er mir vor. Man wird mir doch wohl keine kruden Scherze zu spielen wagen – was meinst du?
In Erwartung einer raschen Antwort,
B.
Franka an Becky, Porta Westfalica, den 20. Juli 1830
Liebe Becky,
deine Nachricht erreichte mich mit einem Päckchen, das mir Hermine, die gute Seele, nach meinem überstürzten Aufbruche nachsandte. Ja, ich gestehe, bis zum heutigen Tag nicht einen Gedanken daran verschwendete, dir über meine Reise Bescheid zu geben. Aber du weißt, wie groß der Schmerz war, in den mich H.’s Bekenntnis zu Renate stürzte. So packte ich meine Valise und nahm das von H. hart erkämpfte Kranzgeld, um es für eine Landpartie auszugeben.
Doch einmal unterwegs, wollte in mir das Fernweh nicht verstummen, auch wenn nicht alle Zerstreuung erfreulich, nicht jede Begegnung mit Zufriedenheit endete. Da war zum Beispiel die Soiree im Salon der Frau K., die, du erinnerst dich, in Minden zu Besuch bei F. war und uns alle nach Porta Westfalica einlud, und welche in monatlichem Turnus lokale Poeten und Musiker lädt. Und nun erwähnst du einen geheimnisvollen Ort namens Zentauri, von dem ich noch nie gehört habe, der mir folgende Assoziation beschert:
Zentauri, Zentauri … wie der angsteinflößende Zentaur, gefangen in seinem Labyrinth? Der Zentaur, der Jungfernblut forderte und es in dieser österreichischen Stadt der Kongresse an der Donau bekam? Dort, wo Mehlspeisen mit Schlagobers und Whiskey von Generaldirektorengattinnen genossen werden? Davon berichtete nämlich eine anwesende Freundin bei der Soiree in Frau K.’s Salon, hübsch erdacht während der langen, dunklen Winterabende. Leichte Kost war es, die die Freundin darbrachte: In jener Zentaurengeschichte im beschaulichen Wien wurde eben jenes Ungetüm von einer Generaldirektorengattin höchstselbst dingfest gemacht, um nicht zu sagen: gerichtet! – Gemeinsam mit dem Zimmermädchen, das selbst grob daherkam, aber wo bekommt man heute noch gutes Personal?
Hin und wieder zollte die Gesellschaft der Verfasserin leises Gelächter, wissendes Nicken und verständiges Seufzen. Man schloss mit höflichem Applaus; die Herren begaben sich zum Rauchen auf die Terrasse, während die Damen sich ins Teezimmer zurückzogen. Nach der langen Zeit der Abgeschiedenheit hatte ich voll Begierde den literarischen Vortrag aufgesogen, der fesselnd und überbordend an Einfallsreichtum zugleich erschien. Doch hatte sich auch ein leichtes Kratzen in meinem musischen Verständnis ob der Form bemerkbar gemacht.
Es drängte mich, gleich nach Betreten des Teezimmers meine Meinung kundzutun. Eine der geladenen Damen kam mir jedoch zu meinem Glück und zu ihrem Unglück zuvor. Denn kein Wort ließ Frau K. gelten; mehr noch: Andere Freundinnen stimmten in Frau K.’s dissonante Worte über die höflich-berechtigte Kritik der Dame ein. Doch statt ihr beizuspringen, wie ich es mir mit meinem erst neu erworbenen Mut vorgenommen hatte, schwieg ich feige. Die neu gewonnenen Freundschaften sollten nicht wieder wegen meiner aufbrausenden Art ersterben, kaum dass sie erblüht sind.
Aber dir will ich nun erzählen, was mich bewegte, denn von dir muss ich keine Schelte befürchten – und ich schäme mich auch ein wenig ob meiner Leichtfertigkeit, die guten Vorsätze sofort wieder zu verdammen: Etwas rumpelig geraten war diese mörderische Mär, teils zu verschroben die Figuren oder gar zu einfach dargestellt. Und auch ein Interpunktionist wäre nebst der Order von Worten und Sätzen nötig gewesen, um Betonung und Wortfluss beim Verlesen des Textes zu erleichtern … Jedoch: Ich möchte nicht strenger sein mit der Verfasserin, als ich es mit mir selbst bin. Das große Wien an der Donau mit den prunkvollen Kirchen und Domen und der Gattin ist alle Male eine literarische Reise wert, die Besichtigung des Hietzinger Zentaurenwürgers famos! Und so werde ich noch nicht zurückkehren, wie ich es mir gestern Abend noch vornahm, sondern meine Finanzen in diejenige Unternehmung investieren, die mich irgendwann auf österreichisches Kopfsteinpflaster führt.
Sei gegrüßt und freundschaftlich geküsst, liebste Becky!
Deine dich inniglich vermissende Franka
PS: Liebste E., sollte deinem genialen Köpfchen ein anderer Zentaur – eine Centauriane? – entsprungen sein, so hülf mir, zu verstehen!
Wem ich diesen Roman ans Herz lege:
Jungen, ungestümen Charakteren, wie ich seinerzeit einer war! Natürlich wollte ich später noch den ganzen Roman lesen und siehe da, bei einer späteren Reise nach Wien fand ich ihn in einem kleinen, staubigen Antiquariat. Zu Beginn ist der Roman deutlich schwächer, hin und wieder rumpeln die Sätze. Zu leichtfertig wird stellenweise mit Worten umgegangen, die Figuren erscheinen zu einfach zeichnet. Nichtsdestotrotz bietet er spannende Unterhaltung bis zum denkwürdigen Schluss. Wie gerne würde ich den Ort des Finales besuchen! Doch da er noch nicht existiert, wird mir dieses Vergnügen auf ewig verwehrt bleiben.
Somit vergebe ich *** von 5 Sternen.
Franka, im Juli 1850
Der Würger von Hietzing, Constanze Scheib, Oktopus Verlag
Beckys Brief wurde von Nike Leonhard vefasst. Hier geht es zu ihrem Blog: https://nikeleonhard.wordpress.com/