Bevor diese Sage den Weg in die Youth Ballet High School fand, habe ich bewusst ein kleines Bildungsdrama inszeniert: Meine älteste Tochter hatte sich in der Schule wochenlang intensiv mit griechischer Geschichte befasst und vehement gefordert, etwas von ihrem neuen Wissen in die neue Serie einfließen zu lassen. Nachdem ich sie und ihre Schwester beim Lit.Limbus Dance Floor eher kurz gehalten habe, was die Einbringung ihrer Ideen betraf, bestand sie nun darauf, ein griechisches Liebespaar im Stil von Romeo und Julia zu kreieren. Irgendwann ging mir ihre ständige Vermischung des Shakespeare-Dramas mit griechischer Mythologie so auf die Nerven, dass ich sie dazu verdonnerte, wenigstens die komprimierte Ausgabe von Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« zu lesen, die von 1838 bis 1840 in drei Bänden herausgegeben wurden. (Das Buch, das sie lesen musste, ist in modernem Deutsch verfasst. Es besteht also kein Grund, die Polizei einzuschalten.) Auf Seite 200 von 556 trat sie jedoch in Lesestreik, weil sie sich nicht von mir ausbeuten lassen wolle: »Lies doch selbst nach, wie das genau mit dem Frontman der Argo-Boys und seiner Ische lief!« Diese auf so vielen Ebenen verstörend falsche Aussage lieferte immerhin die Charakterisierung dieses Liebespaares. Hier jedoch zunächst die Sage der beiden:
Der Halbgott Orpheus und die Nymphe Eurydike verliebten sich ineinander und heirateten. Blöderweise wollte Aristaios, der Gott der Imkerei, Eurydike vergewaltigen. Als sie floh, trat sie auf eine Schlange und starb durch ihren Biss.
Orpheus war natürlich betrübt und versuchte sie mit seinem Lyraspiel aus dem Totenreich zu befreien, und Hades, der Gott der Unterwelt, ließ ihn mit ihr ziehen, weil Orpheus’ Spiel ihn so sehr rührte. Jedoch stellte Hades eine Bedingung: Orpheus sollte Eurydike an der Hand aus dem Hades führen, musste aber die Augen schließen und durfte sie erst wieder öffnen, wenn er in der Oberwelt angekommen war. Erst dann würde Eurydike wieder lebendig.
Aber Eurydike war zu diesem Zeitpunkt ein körperloser Geist. Und so wurde es Orpheus irgendwann unheimlich, Eurydike nur hinter sich zu wissen, aber nicht zu hören. Und so öffnete Orpheus doch die Augen, kurz bevor sie die Oberfläche erreichten – und wusch! war Eurydike für immer in der Unterwelt gefangen. Orpheus spielte und heulte noch ein bisschen herum, aber Hades hatte keine Lust mehr auf ihn und seine Sonderwünsche. Orpheus musste allein in die Oberwelt zurück.
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