Rezension Das Spiel des Greifen, Frank Siller
Franka an Fanny, Paderborn, den 20. August 1830
Liebste Fanny,
außerordentlich anstrengende, aber auch fruchtvolle Tage liegen hinter mir. Es begann damit, dass der Postkutscher, den ich am 11. des Monats in Grevenhagen antraf, erneut keine Nachricht von dir mitbrachte, was mich zunächst erzürnte. Solltest du wirklich so schändlich mit mir gebrochen haben? Doch bevor ich mir weitere innere Schmerzen zuführen konnte, stieg, nein, purzelte eine in stinkende Lumpen gehüllte Erscheinung aus dem Wagenkasten, die meine Sinne bannte, bevor Frau Boltes gute Erziehung mich zur Räson brachte. Hätte unsere alte Lehrerin mich dort mit offenem Mund stehen und diese Tandlerin anstarren sehen, hätte sie mir bis zum nächsten hohen Feiertag empfindlichste Strafen auferlegt!
Meines Fehlverhaltens gewahr werdend, stolperte ich verwirrt hinter dem Postler her, setzte mich beschämt hinter meine irdene Schüssel an der groben Tischplatte und nippte an meinem leeren Humpen. In Luft auflösen konnte ich mich leider nicht. Doch es brauchte an diesem Tag keine Frau Bolte, um mir meine Strafe zu erteilen, das erledigte schon die Tandlerin: Ohne um Erlaubnis zu bitten, setzte sie sich nach einem knappen Gruß zu mir an den Tisch, bestellte mit krächzender Stimme kühn Speis‘ und Trank bei der Wirtsfrau und grinste mich an.
„Na, du? Schaust mich an, als wäre ich eine Scheusalität aus der Hölle. Gestatten: Costello.“
Nun habe ich noch nicht viel Ahnung von der Welt. Doch dieser Name klang selbst in meinen Mindener Ohren südländisch und männlich. Ich schaute verdutzt – wieder etwas, das Frau Bolte empfindlich geahndet hätte-, denn diese weibliche Costello löste allen Umständen zum Trotz etwas, nun, Erdverbundenes in mir aus. Als wäre sie Marianne Gärtners Schwester, die, wenn du dich erinnerst, in der Schule immer mit ihrer groben Physis kokettierte, statt sich Frau Boltes Regime zu fügen, aber klüger war als wir alle zusammen! Und so stellte auch ich mich vor, neugierig, wie ich nun einmal bin, was da kommen möge.
Die Stunden bis zum Abendläuten vergingen zäher als erwartet. Doch obwohl sich die elaborierten Geschichten der weiblichen Costello oft in allzu schrecklichen Details und ihren starken Empfindungen gegen Männer, die die Hand gegen ihre Frauen und Kinder hoben (oder Schlimmeres!) und hernach von der gerechten Strafe ereilt wurden, zu verlieren drohten, erstickten sie etwas in mir nicht: meine Neugier. Ihre Geschichten mochten gleichermaßen erfunden und bis zum Schrecklichsten aufgebauscht sein; dennoch konnte man sich ihnen kaum entziehen. Denn diese weibliche Costello war gleichermaßen bauernschlau und hochgebildet in ihrem Urteil über die echten Scheusalitäten, denen Frauen- und Kinderleben nichts bedeuteten. Warum ich sie nicht zuvor in einem Salon antraf, ist mir auch eine Woche nach unserer Begegnung ein Rätsel. Und wiederum nicht, denn ihr Gebaren ist das einer Dilettantin, die, hätte man sie in den letzten Jahren nur richtig angeleitet, bei unserer Begegnung eine vielversprechende Debütantin hätte sein können.
Unsere Wege trennten sich erst in den frühen Morgenstunden. Einerseits war die weibliche Costello ermüdend ausführlich, andererseits zog sie alle Anwesenden in der Poststation mit den Schrecknissen der Welt in ihren Bann. Als ich am nächsten Morgen in meiner Kammer auf dem piksenden Strohsack erwachte, hoffte ich, ihr beim Frühstück nicht zu begegnen. Als ich dann hörte, dass sie bereits in der Nacht weitergelaufen war, fühlte ich trotzdem bittere Enttäuschung in meinem Herzen. Es tat mir so unendlich leid um diese zerrüttete Existenz, die nur so vor Geschichten über die Finsternis in den Menschen überquoll! Gleichzeitig beneidete ich sie um ihre innere Freiheit, mit jedem darüber zu reden.
Allen meinen Reiseerwartungen zum Trotz – du weißt, die Thurn-und-Taxis-Linie endet in Grevenhagen – tat sich bereits eine Stunde später eine günstige Mitfahrgelegenheit auf. Es war nur ein Bauernwagen bis Altenbeken, eine Strecke, die ich gut und gerne auch zu Fuß hätte gehen können. Doch von dort nahm mich der Schwager des Wagenführers noch am gleichen Tag nach Neuenbeken mit, was mich Paderborn gut 13 Kilometer näher brachte, und eine kostenlose Schlafstatt gab es obendrein!
Während der rumpeligen Fahrt musste ich ununterbrochen an die weibliche Costello denken, die schon so viel Schreckliches bereinigt hatte, weil sie so neugierig war. Anscheinend hatte kein noch so skurriler Umstand sie bisher davon abgehalten, einer Sache auf den Grund zu gehen. Und das wollte ich auch tun, um nämlich herauszufinden, warum du mir nicht antwortetest.
Ich schrieb noch am gleichen Abend deiner Tante Grete mit der Bibliothek, weil sie dir Tür und Tor zur Außenwelt öffnet, wann immer du es möchtest. Wir alle wissen darum, dass sie die einzige Seele in deiner Familie ist, die dich noch richtig wahrzunehmen scheint. Für alle anderen, auch für deinen Wilbert, bist du nur die tugendhafte Gattin, die dem Manne zwei reizende Kinder gebar.
Deiner Tante Grete sandte ich nun auch diesen Brief, denn etwas sagte mir, dass sie die Einzige war und ist, die mich in meinem Ansinnen unterstützen würde. Wenn du also diesen Brief in Händen hältst, dann nicht, um dich und deine Situation bloßzustellen, sondern um dich aus deiner Sprachlosigkeit zu erwecken. Vielleicht wirkt auch die weibliche Costello mit ihrer schlampigen Umständlichkeit bei dir die Epiphanie, wie es auch alle Heiligen mit ihrer Armut und dem Blick für die Göttlichkeit taten.
Ich werde noch ein paar Tage in Paderborn bei der Verwandtschaft verweilen, um Sehenswürdigkeiten aufzusuchen. Bis dahin ist hoffentlich gute Kunde von deiner Tante Grete eingetroffen.
Sei gestärkt von meinem Kuss des Abenteuers! Möge sich ein wenig der Kraft meines Herzens auch in dir entfalten.
Deine dich liebende
Franka
Warum ich den Lesern diesen Roman ans Herz lege:
Der Mann, der die Geschichte der weiblichen Costello und ihres Freundes Locke aufschrieb, war ein desperater Schreiber, der sich zum ersten Mal an einem Buch probiert hatte und wohl nur unzureichende Ratgeber fand. Möge die Erleuchtung diese Ratgeber dazu bringen, ihm wenigstens einen Platz ganz vorne in ihrem Schaufenster zur Welt einzurichten!
Man berichtete mir, dass alle Costello-Geschichten im Nachhinein zu einer einzigen zusammenflossen. Besser beraten wäre man gewesen, mehrere Teile aus den 540 Seiten umfassenden Werk zu machen, um den Figuren mehr Entfaltungsraum zu geben. Hat sich die weibliche Costello vielleicht deswegen auf den Weg nach Grevenhagen gemacht, um Raum zum Atmen zu finden? Ich weiß es leider nicht, denn ich bin ihr bis heute nicht mehr begegnet.
Wie dem auch sei: Es war ein in Ansätzen auf allen Ebenen starkes Debüt. Mit ein wenig mehr Einfühlungsvermögen, als die derzeitigen Berater gezeigt haben, könnte dem nächsten Werk des Schreibers bereits mehr Erfolg beschieden sein
*** von 5 Sternen!
Franka, im August 1850
Das Spiel des Greifen, Frank Siller