Vielleicht hast du selbst mal an einem inneren Abgrund gestanden, den du mit ein bisschen Einsatz überwinden konntest. Du nickst und denkst dir: Boah. Es war wirklich ein hartes Stück Arbeit, über diesen Abgrund zu kommen. Und dann schaust du deinen Gegenüber an, der eine Weile abgeschottet in einer psychiatrischen Einrichtung gelebt hat, weil er in seinen eigenen Abgrund hineingestürzt ist.
Mach jetzt bitte keinen Fehler! Denk nicht, dass er sich bewusst genau diesen bodenlosen Abgrund gesucht hat, um auszuprobieren, ob er ohne Hilfsmittel auf die andere Seite kommt. Das hat er nicht. Der Sturz in die Tiefe ist einfach passiert, weil weder Zeit noch Raum blieb, um ordentlich Anlauf zu nehmen. Für diese Ereignisse gibt es keine Gebrauchsanweisung. Es hält auch niemand ein Schild hoch, auf dem steht: „Achtung, in 50 Tagen Lebensgefahr wegen ungeklärter Episoden in der Vergangenheit!“ Der Riss tut sich plötzlich auf, der nächste Schritt geht ins Leere. Dein Gegenüber musste quasi im freien Fall mit dem, was sein erschöpfter Geist noch hergab, sein Überleben organisieren. Ohne dass die, die auf der anderen Seite des Abgrunds standen, ihm sagen konnten, wie er das ohne Hilfsmittel machen soll.
Wie auch immer, der Abgrund liegt hinter ihm. Irgendwie hat er es auf die andere Seite geschafft. Er hat die Psychiatrie wieder verlassen. Ein paar Narben sind übrig geblieben. Er wird nie mehr an sein altes Leben anknüpfen können. Aber er läuft trotzdem wieder los.
Und du, was machst du? Dir erscheint sein Lachen befremdlich, denn er musste einen Teil seines Lachens in der bodenlosen Finsternis zurücklassen. Du verziehst den Mund, weil er schneller weint als früher. Aber das tut er nicht, weil er vor Selbstmitleid vergeht, sondern weil etwas an ihm rührt, das ihn belastet. Er hat es erkannt, bevor es ihn wieder runterzieht, und nimmt sich die Zeit, um darüber zu trauern. Wenn er sich bedrängt fühlt, zieht er Grenzen und nimmt in Kauf, damit andere zu verletzen. Das macht ihn wiederum einsam. Aber nur so kann er weiterleben.
Und weißt du auch, wie gut du es hast, dass du so glimpflich über deinen eigenen Abgrund gekommen bist? Sei dankbar, dass du nicht meine Erfahrungen hast machen müssen. Freu dich drüber und geh langsamer, damit ich mitkomme. Ich tue, was ich kann, um mit dir Schritt zu halten. Ja, ich weiß, dass meine Art zu gehen seltsam ist, weil sie so anders ist als die Fortbewegung, mit der andere Menschen durch ihr Leben kommen. Aber ich kann es nicht ändern. So sieht es eben aus, wenn man überlebt.
E-Book, 200 Seiten, ISBN 978-3-95819-141-9, 3,99 €
Taschenbuch, 200 Seiten, ISBN 978-3-95819-930-9, 12 €
http://midnight.ullstein.de/ebook/tod-am-niederrhein/