Der blanke Horror: Es ist hundsgefährlich, Weiden im Zwielicht für einen Landschaftskalender zu fotografieren! Tod am Niederrhein @midnightebooks

Ortsfremden ist der Niederrhein vor allem wegen seiner Weiden-im-Zwielicht-Kalender bekannt. Auf jedem Kalenderblatt ragen Kopfweiden geheimnisvoll aus dem Nebel, mal mit, meist jedoch ohne Schnee. Aber es ist alles andere als Pillepalle, die trügerische Ruhe des Niederrheins auf ein Bild zu bannen.

· Die Wahl des richtigen Ortes bei Tageslicht ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen Ihres Bäume-im-Zwielicht-Kalenderprojektes. Wegen der zahlreichen unbeleuchteten Feldwege kann es sonst passieren, dass Sie Ihren auserkorenen Kalenderblattplatz nicht wiederfinden.

· Entscheiden Sie sich immer für den Sonnenaufgang als Hintergrundmotiv, niemals den Sonnenuntergang! Warum? Im Licht der untergehenden Sonne kommen zahlreiche Niederrheiner noch einmal aus ihren Häusern, um in der Dorfschenke den Tag Revue passieren zu lassen. Auf dem Weg dorthin werden besonders gern Ortsfremde eingesammelt. Diese dürfen erst wieder des Weges ziehen, wenn sie sämtliche persönliche Daten offengelegt haben, denn der Niederrheiner an sich ist vielseitig interessiert.

· Für ein Niederrhein-Kalenderbild mit Schnee sollte man immer die Niederschlagstabellen der letzten 100 Jahre durchgehen. Anhand der Daten lässt sich die Wahrscheinlichkeit abschätzen, ob es tatsächlich wieder schneien könnte oder ob die nächste Regenperiode in diesen Zeitraum fällt. Es gibt leider keine Garantie dafür, dass es auch wirklich so kommt. Deshalb gilt: Springen Sie ins Auto, sobald die erste Flocke fällt! Und seien Sie am Ort des Geschehens, bevor diese erste Flocke die Krume des abgeernteten Ackers berührt!

· Bei Fotos für Frühling, Sommer und Herbst reicht es, bezüglich der Niederschlagshäufigkeit den Grundsatz zu beherzigen: Augen zu und durch!

· Ein scharfer Wind, der über der Rheinebene Schwung geholt hat, genügt am Niederrhein, um alles Lebendige bis hinauf zur Nordsee schockzufrosten. Am besten beugen Sie übermäßigem Frieren während des Shootings vor, indem Sie vorab diverse Wärmetänze einüben. Damit halten Sie Muskeln und Sinne geschmeidig. Wäre ja blöd, wenn Sie wegen steif gefrorener Finger nicht auf den Auslöser drücken können.

· Statten Sie sich zu jeder Jahreszeit mit Kompass und GPS aus, bevor Sie losgehen. Plötzliche Erfrierungen Ende Mai können einen Notfalleinsatz notwendig machen, für den der Rettungsdienst auf den schier endlosen Feldern und Weiden Ihre Koordinaten benötigt.

· Denken Sie auch an genügend Wasser! Auf der Haut mag sich die Wärme wie angenehme 20° C anfühlen. Was viele nicht wissen: Diese Temperatur gilt am Niederrhein als hochsommerlich. Sie hat die gleiche Wirkung wie ein ungeschützter Aufenthalt in der Sahara! Ein Sonnenstich auf freiem Feld wegen Wassermangels hat schon so manchen Fotografen außer Gefecht gesetzt.

· Sollten Sie sich trotzdem in der Einsamkeit verirren, droht Ihnen keine Gefahr vonseiten der Natur. Wahrscheinlich werden Sie diversen Herrengedecken in der nächsten Dorfkneipe zum Opfer fallen, wohin vorbeikommende, wohlmeinende Einheimische Sie verschleppen (auch gern als „Erste Hilfe“ bezeichnet). Wilde Tiere wie Wölfe stellen dagegen keine Bedrohung mehr dar. Zoologen gehen davon aus, dass die natürliche Umständlichkeit des Niederrheiners über die Jahrhunderte hinweg ein Rudel nach dem anderen dahingerafft hat.

· Wenn es soweit ist, stehen Sie zu einer unmöglich frühen Zeit auf. Ja, auch wenn es draußen nieselt. Der Nieselregen könnte sich in Flocken verwandeln, in Starkregen übergehen, einfach aufhören oder Nieselregel bleiben. Das weiß man am Niederrhein nie so genau. Auf jeden Fall wird am frühen Morgen der Nebel wie bei Matthias Claudius aus den Wiesen steigen. Und um das Ding mit den Bäumen und dem Nebel geht es Ihnen schließlich, oder?

· Nehmen Sie auf alle Fälle eine dicke Decke, eine XXL-Thermoskanne heißen Tee und einen Camping-Stuhl mit. Schätzen Sie sich glücklich, wenn Sie sich eine Begleitung organisieren konnten, denn Ruhe und Einsamkeit schlagen am Niederrhein sehr schnell aufs Gemüt.

· Trinken Sie vor dem Aufbruch einen starken Kaffee, damit sie auch wirklich wach sind. Sie wären nicht der erste Hobbyfotograf, der während der Fahrt auf den einsamen, schnurgeraden Landstraßen am Steuer einschläft.

· Die Anreise zum Motivort Ihrer Wahl: Es ist mitunter sportlich, bei einer flächendeckenden Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h rechtzeitig zu den avisierten Lichtverhältnissen an Ort und Stelle zu sein. Sehen Sie es als Herausforderung, trotz Ihrer künstlerischen Ambitionen die Straßenverkehrsordnung auch bei Überlandfahrten einzuhalten. Rinder und Wildtiere lieben es nämlich, bei ihren Spaziergängen spontan Bundesstraßen zu überqueren.

· Sobald Sie sich häuslich auf dem freien Feld in Sichtweite einiger knorriger Kopfweiden niedergelassen haben, heißt es warten. So ein Sonnenaufgang im Nebel kann einem länger vorkommen, als er wirklich dauert.

· Aber machen wir uns nix vor: Nachdem Sie sich vorab mit GPS, Verpflegung und dem Erlernen von Aufwärmübungen reingestresst haben, wird es einem bei der Warterei auf das richtige Licht in der Einöde ganz schön langweilig. Und kalt. Und feucht. Denn die allgegenwärtige Gefahr des Niederrheins, der Nebel, pfeift auf die Triple-Protective-Layers Ihrer Outdoor-Kleidung. Er findet garantiert eine Lücke im Gewebe, in der er in winzigen Tröpfchen kondensieren und Sie zum Shaking-all-over bringen wird. Denn er ist schon länger hier als Sie. So lang, dass der Nebel am Niederrhein eine eigene Persönlichkeit entwickelt hat. Und der sind Sie immer und überall machtlos ausgeliefert.

Fazit: Der Niederrhein ist nur was für ganz harte Naturburschen. Prüfen Sie deshalb bitte sorgfältig, ob Sie für ein Kalenderblatt-Fotoshooting die richtigen Voraussetzungen mitbringen. Wägen Sie ab, ob Sie sich nicht doch mit dem Kauf eines bereits seit Jahrzehnten immer wieder neuaufgelegten Kalenders begnügen wollen. Der stationäre Buchhandel wird es Ihnen danken!

E-Book, 200 Seiten, ISBN 978-3-95819-141-9, 3,99 €
Taschenbuch, 200 Seiten, ISBN 978-3-95819-930-9, 12 €
http://midnight.ullstein.de/ebook/tod-am-niederrhein/