Ballerina High – Sylphide: Entscheidung für die Essstörung

LL_53_BHigh04_Sylphide_U1_140

Und nun zum Klischeebruch Nr. 2: Effie und die Essstörung.

Bereits im Roman Eisprinzessin habe ich die Protagonistin Isabel mit Bulimie konfrontiert, hatte jedoch das Gefühl, nur unzureichend ausgedrückt zu haben, dass diese Störung nicht zwingend mit dem Leistungssport zusammenhängt. Der Erkrankte wird stellvertretend für anderen zum Symptomträger, z.B. durch Probleme der Eltern wie Scheidung. Eine zentrale Aussage von Erkrankten ist, dass sie sich aus einer Situation „heraushungern“ wollen. Das Hungergefühl ist die einzige innere Regung, von der sie glauben, sie kontrollieren zu können, im Gegensatz zu den Konflikten der Eltern, über die sie keine Macht haben. Körperlicher, sexueller und psychischer Missbrauch fördern die Ablehnung des eigenen Körpers.

Auch Jade fühlt sich machtlos, als ihr aufgeht, dass sie das Auseinanderbrechen ihrer Familie nicht verhindern kann. Gleich in der ersten Szene wird sie mit dem widersprüchlichen Verhalten ihrer Eltern überfordert: Sie sitzen „zivilisiert“ am Esstisch, aber die unausgesprochenen Konflikte überlagern die ganze Situation. Dieses sog. Double-Binding (das eine sagen oder tun, aber etwas ganz anderes meinen) kann extreme Verunsicherung hervorrufen. Wer würde hier nicht versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bringen? Da ist jedes Mittel recht, auch wenn man es gegen sich selbst richtet!

Natürlich hätte ich dieses Mal auch eine Anorexia nervosa als Grund für Jades Essstörung nehmen können. Das Problem ist jedoch, dass die körperliche Leistung relativ schnell abfällt, wenn man dem Körper die Nahrung entzieht. Jade hat in diesem Stadium zudem noch genug Ehrgeiz, um ihre Rolle in der Abschlussgala zu verteidigen, und dafür muss sie schlichtweg genügend Energie aufbringen. Letztlich ist dieser Aspekt aber nur bei der Berücksichtigung der Symptome wichtig, denn das Leid, das sie mit ihren Eltern durchlebt, wird durch die Störung weder verstärkt noch geschwächt.

Und hier kommt nun das letzte und stärkste Argument, sich im vierten Band mit der Völlerei zu beschäftigen. Eine Bekannte erzählte, dass sie schon lang vor der Scheidung ihrer Eltern wusste, dass etwas nicht stimmt. Es gab mehr oder weniger versteckte Hinweise auf das schlechte Gewissen: die gefüllte Bonboniere, Geschenke, spontane Ausflüge oder auch regelmäßig zugesteckte Geldscheine. Für mich lag der Schluss nahe, dass Jades Vater Anthony seine Familie einerseits zerreißt, um andererseits diese Risse sofort wieder mit einer „Entschuldigung“ zu kitten, sprich: regelmäßig sein schlechtes Gewissen mit Einkäufen in Confiserien beruhigt.

Die regelmäßigen Pralinengeschenke erschienen mir als Begründung für Jades Flucht in die Essstörung. Mit ihrer Essensverweigerung drückt sie auf paradoxe Weise die Ablehnung ihres Vaters aus, womit gleichzeitig der nächste Klischeebruch deutlich wird. Essstörungen werden meist im Hinblick auf eine Störung im Mutter-Tochter-Verhältnis untersucht, aber sie kann sich auch zwischen Vater und Tochter oder Mutter und Sohn abspielen.

E-Book ab 1. April 2016 für 1,49 €