Sommerkonserve von Bettina Unghulescu
Hin und wieder gabs ja auch so etwas wie Naturgimmicks. Damit meine ich nicht die ganze Geologenausrüstung, sondern Samen, Urzeittiere oder wie in diesem Fall die südamerikanischen Springbohnen. Es war mal wieder Herbst geworden am Niederrhein, und da es sowieso langweilg war, musste man den Kindern etwas bieten.
In den Bohnen sollten laut Beschreibung im Heft die Maden eines Schmetterlings leben. Und wenn man diese vermadeten Bohnen unter eine Wärmequelle legte – z. B. eine Schreibtischlampe – sollten sie sich nach einer Weile bewegen und lustig herumhüpfen. Meine Bohnen brachten es nur zu einem müden Schaukeln, aber die Vorstellung, dass darin Lebewesen hausten, die vielleicht ausschlüpften und weitere Eier legten, die dann wiederum Maden gebaren und die sich – also auf die Schnelle: Die Vorstellung war ziemlich spannend. Und deshalb musste ich diese Bohnen haben.
Die Maden sind niemals ausgeschlüpft und haben auch keine Eier gelegt. Das war die erste Enttäuschung. Die zweite war, dass ich die Bohnen auch nicht selbst öffnen konnte, denn ich wollte wenigstens sehen, wie diese südamerikanischen Biester aussahen. Damit hätte ich wunderbar bei meinen Freundinnen angeben können – ganz besonders bei Luca, die sich nicht mal traute, die Bohnen zu kaufen – und ich hätte auch Bernie imponiert, dem obercoolen Jungen aus der Parallelklasse, der erst vor kurzem in unsere Straße gezogen war. Da ich aber mit einer mordsmäßigen Brille durchs Leben stolperte, hatte er noch keinen Blick auf mich verschwendet. Und das war ob meiner fast neun Jahre für mich nicht mehr so leicht wegzustecken.
Rettung nahte in Form von Ronny. Nachdem wir festgestellt hatten, dass uns eine indirekte Gemeinsamkeit verband, hatten wir uns immer wieder zusammengetan oder gemeinsam Hausaufgaben gemacht, weil er zufällig auch in meine Klasse gekommen war. Als ich mal wieder über meinem Dasein als bebrillte Neunjährige brütete und die Matheaufgaben einfach nur langweilig fand, klingelte das Telefon.
„Hey Schnegge, isch habm Fuchsschwanz geschenk gekrischt“, flötete Ronny in den Hörer. „Willste den mal sehen?“
„Ich muss noch Mathe machen“, wehrte ich ab. Fuchsschwänze fand ich noch langweiliger als Multiplikation
„Bernie hatn ooch schon ausprobiert und meint, deris suboa.“
Lauernde Stille.
„Okay, ich komm.“
Zehn Minuten später hockte ich in Ronnys Zimmer und blinzelte immer wieder kurzsichtig zu Bernie, eigentlich Bernhard, hinüber. Die Jungs unterhielten sich über Matchbox, Masters of the Universe und anderes Zeugs, das mich nicht im geringsten interessierte. Aber ich saß mit Bernie in einem Zimmer und konnte ihn heimlich anhimmeln.
Plötzlich stand Ronny auf. „Ey Bernie, lassuns die Böööhnn aufsägn.“
Ich verstand erst nicht, aber das musste ich auch nicht. Ronny war ebenfalls dem Yps-Fieber erlegen und war in Besitz der Springbohnen. Wir diskutierten eine Weile darüber, was wir wohl darin finden würden – Bakterien, die die Menschheit vernichteten, fleischfressende Schmetterlinge, grünen Schleim (die Ghostbusters waren gerade im Fernsehen ausgestrahlt worden), den Staub der zerfallenen Larven oder auch gar nichts und kamen zu keinem Schluss.
Ronny spannte eine der winzigen Böhnchen in seinen neuen Schraubstock – er hatte eine richtige Werkbank in seinem Zimmer, das eigentlich schon für eine Person mit Zubehör zu klein war – und setzte den Fuchsschwanz an. Immer wieder rutschte er ab, bis Bernie ihm mit Kennerblick den Fuchsschwanz aus der Hand nahm.
„Lass mich mal.“
Ich himmelte ihn still an, wie er so cool und so absolut lässig über der Situation stand. Er hatte gemerkt, dass ich die ganze Zeit an seinen Lippen gehangen hatte; er wusste durch den Buschfunk, dass ich tierisch in ihn verknallt war; und er spürte, dass ich mich hinter meiner Brille so klein fühlte, dass es nicht viel Aufhebens bedurfte, um mich zu beeindrucken.
Als täte er den ganzen Tag nichts anderes als Bohnen aufzusägen, spannte er eine etwas größere Bohne ein, setzte den Fuchsschwanz an, hielt die Bohne zusätzlich mit Zeigefinger und Daumen fest – alles sah absolut professionell aus – und nahm Schwung. Leider hatte er die Rechnung ohne die Bohne gemacht. Denn im Gegensatz zur ersten Bohne verharrte sie nicht still im Schraubstock und ergab sich ihrem Schicksal. Sie war sogar außergewöhnlich kitzelig und rutschte augenblicklich aus der Zwinge, als der Fuchsschwanz sie das erste Mal berührte. Wahrscheinlich hatte Bernie vor lauter Coolness aber die Zwinge einfach nicht fest genug zusammengedreht. Jedenfalls ertönte ein Schmerzensschrei, Blut spritzte an die weiß gestrichene Kinderzimmerwand – und dann tropfte die rote Soße von Bernies Hand.
Ronny aktivierte im Bruchteil einer Sekunde sein Erste-Hilfe-Pionierwissen, flitzte zum Notfallkoffer und hatte schon den Mullverband in der Hand, als Bernie die Augen verdrehte und in die Knie ging. Sehr fachmännisch entfernte Ronnie Säge und Bohne aus seinen Händen, stillte die Blutung durch Abdrücken der Arterie – ich assistierte ihm eifrig – und verband Bernie schließlich so sauber, dass ich nur noch staunte. Derweil lag Bernie blass und schwach unter der Werkbank und blickte ungläubig auf das, was mit ihm passierte. Nach mehreren Schlucken Wasser und einem Zuckerstückchen versicherte er uns, dass er wieder wohlauf wäre und jetzt nach Hause müsse.
„Ich muss noch Hausaufgaben machen“, nuschelte er betreten und war verschwunden.
Nachdenklich schaute ich Ronny dabei zu, wie er wortreich den „Unfallort säuberte“ und alles wieder wegpackte. Er begleitete mich nach Hause und wir machten zusammen unsere Matheaufgaben. Und dann ging er wieder, als wäre es ganz normal, nachmittags eine Bohne aufzusägen, einen Schwerverletzten zu verbinden und dann alles zu multiplizieren, was nicht schnell genug verschwunden war.
Übrigens ist Ronny heute als Notarzt im Ruhrgebiet unterwegs. Und Bernie? – Ich habe gehört, dass er im Lebensmittelhandel als Chefeinkäufer tätig ist. Sicher werden aber seine Kunden niemals südamerikanische Springbohnen in den Regalen finden.