Der stille Ruf des Todes: Essstörungen. Wenn du dich an unsere Abmachung hältst, misstraue ich dir trotzdem

Rita erzählt:

Eine Woche nach der Diagnose ging ich zum ersten Wiegen. Ich hatte 300 Gramm zugenommen. Mama und Papa und ich waren unglaublich erleichtert, dass wir einen Weg gefunden hatten, aus der Sache rauszukommen. Ich aß weiter unter Aufbietung all meiner Kräfte, denn ich hatte ein Ziel vor Augen: fünf Kilo zuzunehmen, um nicht sterben zu müssen.

Beim zweiten Wiegen wog ich ein Kilo weniger. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Wie konnte das sein?! Hatte ich mich ganz umsonst gequält? Der Arzt musterte mich, wie ich fand, nachdenklich, nickte aber und schickte mich nach Hause. Auf dem Heimweg grübelte ich unablässig darüber nach, was geschehen war, dass ich trotz ausreichender Nahrungsaufnahme leichter geworden war. Ich lag bis spät nachts wach und wurde immer verzweifelter. Immer wieder ging ich die Szene beim Arzt durch, und plötzlich war sein Blick in meiner Erinnerung nicht mehr nachdenklich, sondern abschätzig, misstrauisch, ja, voller Verachtung. Er hatte mir nur vorgespielt, dass er mir glaubte, in Wirklichkeit hielt er mich für eine abscheuliche Lügnerin, die ihr Essen wieder auskotzt. Also konnte ich mir auch nicht mehr glauben.

Mama und Papa merkten nicht, dass sie anfingen, mich zu belauern. Jeden Bissen verfolgten sie vom Teller bis in meinen Mund. Ich ärgerte mich und hasste sie dafür, und trotzdem liebte ich sie so verzweifelt, weil sie mir beistehen wollten und es irgendwie nicht schafften. Ging ich, wenn der Teller endlich leer war, anschließend ins Bad, bekam Mama Angst, dass ich alles wieder auskotze. Das habe ich wirklich noch nie gemacht. Ich habe trotz der Schmerzen immer alles bei mir behalten. Ein einziges Mal war mir so schlecht, dass ich dachte: Jetzt kommt mir gleich alles wieder hoch. Aber nichts ist passiert, so sehr ich es mir auch gewünscht habe.

Nach einem Monat hatte sich mein Gewicht unter dem Anfangsgewicht eingepegelt. Die Angelegenheit frustrierte uns drei zunehmend. Fünfmal täglich, zu drei Hauptmahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten, quälte ich mich am Tisch herum, Mama saß daneben, Papa versuchte, mich abzulenken. Irgendwann vertrauten wir uns einfach nicht mehr. Wir machten uns im Grunde gegenseitig fertig, weil wir alle drei verzweifelt waren. Die Waage schien stärker als wir drei, obwohl es sich dabei nur um ein seelenloses Messinstrument handelt. Verrückt, oder?

Vielleicht dachten meine Eltern tatsächlich, dass ich heimlich kotzte oder mein Schulfrühstück verschenkte, weshalb sie sich öfter bei meinen Lehrern erkundigten, ob ich in den Pausen etwas aß. Aber sie waren wie ich wohl mürbe geworden von den ganzen blöden Fragen und den Verdachtsmomenten bei Ärzten und Bekannten, die immer wieder aufkamen: Sind Sie sicher, dass Ihre Tochter das Essen bei sich behält? Und Mama und Papa sagten jedes Mal: Ja, wir sind sicher. Und dann musterten sie mich mit dem gleichen nachdenklichen Blick wie der Kinderarzt, weil sie genauso wenig wie ich verstanden, was mit meinem Körper passierte, und das wenige Vertrauen schwand wieder ein bisschen mehr.

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